Intendierte Lernergebnisse
Die Studierenden machen sich mit wissensanthropologischen Perspektiven auf den "Atlas der deutschen Volkskunde" als spezifisches Forschungsunternehmen der damaligen Volkskunde als "Vorläuferin" der heutigen Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie vertraut.Die Studierenden erproben in zwei kooperativen Lehrveranstaltungen der beiden Institute in Klagenfurt/Celovec und Innsbruck jene neuen Möglichkeiten, die nicht nur im Atlas-Material selbst liegen, sondern sich auch aus neuen Fragestellungen an die (un-)bekannten Bestände ergeben.Die Studierenden vertiefen in eigenen empirischen Forschungen regionale Sondierungen zum ADV-Material und reflektieren so über die gegenwärtigen Bezüge damaliger Wissenspraktiken.
Lehrmethodik
Lektüre von Forschungsliteratur zum ADV und zu wissensanthropologischen/-historischen Fragestellungen; Recherchen zu Kontexten, Netzwerken und Personen der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde; Präsentation von Vertiefungsinputs; praktische Übungen mit unterschiedlichen Wissensformaten (Karteikarten, Korrespondenz, Buchbeständen, …); gegenwartsethnographische Erkundungen an verschiedenen damaligen Erhebungs-Orten; Verschriftlichung der Arbeitsschritte und Recherche-Ergebnisse in einem Portfolio.Wichtig für das gemeinsame Vorhaben ist ein Klima gegenseitiger Wertschätzung und Ermutigung in der Gruppe. Das Lustvolle am Arbeitsprozess soll gefördert, das Angstbesetzte verringert werden.
Inhalt/e
Der "Atlas der deutschen Volkskunde", kurz ADV, gilt als umfangreichstes geisteswissenschaftliches Langzeitprojekt, das die Deutschen Forschungsgemeinschaft im 20. Jahrhundert angestoßen, finanziert und lange Zeit auch getragen hat. Die Arbeiten daran dauerten von 1928 bis 1984. Mit Hilfe von Fragebögen sollten Erscheinungen einer als "volkstümlich" eingestuften Kultur dokumentiert und in ihrer räumlichen Verbreitung in Karten dargestellt werden. Während der ADV sich nach 1945 durch Kooperationen mit verwandten europäischen Projekten internationalisierte, sollte er in seinen Anfängen ein „Inventarbuch der deutschen Volkskultur“ (Simon) sein. Er gilt als der erste volkskundliche "Nationalatlas", der "Kulturgrenzen" mit "Sprachgrenzen" assoziierte. Dabei griff er auch auf "grenz- und auslandsdeutsche Gebiete" aus – darunter ab 1929 auf Österreich, was als "Anschluß auf wissenschaftlichem Gebiet" (Meier) gefeiert wurde. Auch wenn der ADV wissenschafts- und institutionengeschichtlich gut untersucht ist, wissen wir über seine "Übertragung" auf die Republik Österreich ab 1929 erstaunlich wenig.Die Lehrveranstaltung wird in Kooperation der Europäischen Ethnologie an der Universität Innsbruck und der Empirischen Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie an der Universität Klagenfurt angeboten. Nach einer Einführungsphase, in der wir wichtige Ausschnitte der Forschungsliteratur kennenlernen, setzen die beiden Standorte verschiedene Akzente: Die Gruppe in Innsbruck (Lv-Leitung: Konrad J. Kuhn) erkundet die Bestände der damals in Innsbruck angesiedelten Österreich-Zentralstelle des ADV. Es handelt sich um ein Erbe des völkischen Volkskundlers Adolf Helbok (1883–1968), der nach 1945 seine Wissensbestände "austrifizierte". Die Gruppe in Klagenfurt/Celovec (Lv-Leitung: Reinhard Bodner) setzt sich mit der Geschichte der hier einst angesiedelten, für Kärnten/Koroška zuständigen ADV-Landesstelle (einer von acht entsprechenden Stellen in Österreich) auseinander. Unter der Leitung Georg Grabers (1882–1957) wollte diese ihre Fragebögen auch jenseits der 1919 gezogenen Grenzen in Italien und im SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) beantwortet wissen.Wer aber waren die Ausfüllenden, die vor Ort mit dem Wissensformat "Fragebogen" interagierten? Während der ADV überindividuelle Aspekte von "Kultur" suchte und Auskünfte aus einzelnen Orten gern in kartografierbare "Kulturräume" verwandelt hätte, drehen wir den Spieß gleichsam um: Ausgehend von der Makroebene der Zentralstelle in Innsbruck und der Mesoebene der Landesstelle in Klagenfurt begeben wir uns auf exemplarische mikroskopische Spurensuche in den 1930er-Jahren am ADV beteiligten Gemeinden. Was passiert, wenn damalige Antworten also dorthin "zurückgetragen" werden, wo sie "herkommen"? Inwiefern sind sie ein mehr oder weniger vergessenes Kapitel (vielleicht aber auch Kapital?) (über-)lokaler Geschichte? Diese Problemstellung führt die divergierenden Ausgangspunkte und Zugänge der beiden universitären Standorte am Ende wieder zusammen und bringt sie ins Gespräch miteinander. In Innsbruck geht der Blick in die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, nach Vorarlberg und Liechtenstein, in Klagenfurt/Celovec in den Alpen-Adria-Raum.Unsere Partner-Lehrveranstaltung in Innsbruck: https://lfuonline.uibk.ac.at/public/lfuonline_lv.details?sem_id_in=25S&lvnr_id_in=645609
Literatur
Groschwitz, Helmut (2014): Rewriting Atlas der deutschen Volkskunde postcolonial. In: Berliner Blätter 67: 29–40.Johler, Reinhard (2020): Die Karten der Ethnographen. Volkskunden, ethnographische Karten, volkskundliche Atlanten (1850–1980). In: ders./Wolf, Josef (Hrsg.): Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert (= Geschichtswissenschaft. Band 16). Berlin: Frank & Timme: 583–625.Larl, Anna; Rathmayer, Manuela (2021): Der Atlas der deutschen Volkskunde und Wir. Oder: Welche Fragen das Öffnen einer Archivschachtel ans Licht bringen kann. In: Sacherer,Maren (Hrsg.): Überfällig – Überflüssig. Beiträge der Studierendentagung 2019 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Band 50). Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie: 38–45.Meier, John (1929): Der Atlas der deutschen Volkskunde (aus einem Gespräch). In: Neue Freie Presse, Nr. 23.211, 28. April 1929: 11.Schmoll, Friedemann (2009): Die Vermessung der Kultur. Der "Atlas der deutschen Volkskunde" und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928-1980, Stuttgart: Steiner.Simon, Michael (2005): Der Atlas der deutschen Volkskunde – Kapitel oder Kapital des Faches? In: Schmitt, Christoph (Hrsg.): Volkskundliche Grossprojekte. Ihre Geschichte und Zukunft. Münster/et al.: 51–62.Wietschorke, Jens (2018): Volkskultur im Planquadrat. Eine wissensgeschichtliche Skizze zur Kartierung als sozialer Praxis. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (Themenheft "Mapping"): 45–55.Weitere Literatur wird im Seminar bekanntgegeben und im Moodle-Kurs zur Verfügung gestellt.