Intendierte Lernergebnisse
Erarbeitung eines differenzierten und kritisch-reflexiven Zugangs zum Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit, Politik und Moral/Ethik, wobei diese Begriffe für sich genommen ebenso wie in ihrer Beziehung zueinander anhand konkreter Fragestellungen erörtert werden. Zugleich Einführung in eine Reihe zentraler Themen Politischer Theorie und Rechtsphilosophie im Kontext von Ethik- bzw. Moraltheorien. Methodisch-systematische Erschließung der relevanten Fragestellungen primär anhand konkreter Texte insbesondere mittels begriffskritischer und begriffsgeschichtlicher Verfahren.
Lehrmethodik
Vortrag; Diskussion; diskursive Erörterung von gemeinsam gelesenen Texten (diese werden den TeilnehmerInnen zur Verfügung gestellt) und Filmausschnitten..
Inhalt/e
Viele Juristinnen und Juristen neigen dazu, Recht (einerseits) und alles, was Gerechtigkeitsfragen, Ethik bzw. Moral oder Politik betreffen könnte (andererseits), möglichst strikt zu trennen. Für diese Position gibt es gute Gründe, allerdings stößt sie immer wieder an Grenzen. So stellt sich bereits die Frage, ob ein solches Unterfangen überhaupt gelingen kann oder nur zu einer Verwischung von Argumentations- oder Entscheidungsgrundlagen führt. Auf eher grundsätzlicher Ebene scheint fraglich, ob solche Trennung überhaupt Sinn machen kann, weil Recht immer im Kontext bestimmter sozialer, kultureller, historischer Bedingungen entsteht und an mehr oder minder explizit gemachten moralischen bzw. ethischen Positionen (welchen Inhalts immer) orientiert ist. Dementsprechend vermieden ältere rechtspositivistische Positionen durchaus auch einen strikten Trennungsgedanken, wie ihn insbesondere Hans Kelsen (1881 – 1973) in seiner „Reinen Rechtslehre“ sehr wirkungsmächtig entfaltet hat. Georg Jellinek (1851 – 1911) etwa hielt eine grundlegende Unterscheidung von Recht und Ethik/Moral für unmöglich. Zugleich vermied er es, selbst ethisch-moralische Inhalte zu postulieren. Jellinek versuchte eher pragmatisch, die soziale Welt nicht aus der des Rechts auszuklammern und definierte „Recht“ dementsprechend als das „ethische Minimum“, auf das man sich innerhalb einer Gesellschaft einigen könne. (Vgl. Jellinek 1908, 45.)Doch wer würde sich schon ein „unmoralisches Recht“ wünschen? Vermutlich niemand. Die Vorstellungen davon, was moralisch bzw. ethisch (beide Begriffe weisen für sich schon unterschiedliche Bedeutungsebenen auf, von konkreten Inhalten ganz abgesehen) wünschenswert sei, divergieren innerhalb menschlicher Gesellschaften allerdings – je komplexer diese sind, umso mehr. Metaregeln, nach denen über verschiedene, teils konfligierende Moralauffassungen entschieden werden könnte, fehlen in den meisten Fällen. Eher bestehen Verweise auf unterschiedliche Prämissen, die dann auch den konkreten Morallehren zugrunde liegen. Zudem sind ethisch-moralische Themen nicht selten stark emotional aufgeladen, und so kann es gerade bei je aktuellen Streitfragen leicht zu massiven politischen Konflikten kommen (man/frau denke nur an Themen wie Schwangerschaftsabbruch oder gleichgeschlechtliche Ehe). Werden all die damit verbundenen Probleme ungebrochen auf rechtliche Fragen und Verfahren appliziert, kann sich dies höchst problematisch in einer Sphäre auswirken, in der Entscheidungen getroffen und auch gewaltförmig durchgesetzt werden können. Daher, so ein Argument, soll die Sphäre des Rechts auch einigermaßen verlässlich bleiben, wechselnden politischen und moralischen Konjunkturen enthoben.Zugleich ist wohl davon auszugehen, dass Recht, das von einer signifikanten Anzahl der Mitglieder einer Gesellschaft nicht als gerecht oder gar als ungerecht empfunden wird, früher oder später auf Akzeptanzprobleme stößt. Diese können sich bis hin zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen steigern. Mit der Rede von Gerechtigkeit ist zugleich eine zentrale Frage ethisch-moralischer Art angesprochen. Dass es die Gerechtigkeit so wenig gibt wie die Ethik oder die Moral, macht die mit alledem verbundenen (und im Detail durchaus heterogenen sowie zuweilen auch gegenläufigen) Ansprüche keineswegs irrelevant, im Gegenteil. Ein wichtiges Thema der Lehrveranstaltung wird sein, gerade die komplexen, schwierigen und zuweilen prekären Beziehungen und Interaktionsmodi zwischen den Sphären des Rechts und jenen ethischer bzw. moralischer Forderungen auszuloten und zu erörtern.
Literatur
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