Intendierte Lernergebnisse
Die Studierenden werden nach Absolvierung der Lehrveranstaltung folgende Kenntnisse und Kompetenzen erworben haben: Überblick über zentrale wissenschaftshistorische Entwicklungen seit ca. 1750 bis zur Gegenwart; Analyse historischer Bedingungen der Wissensgenerierung; historisch-epistemologische Grundlagen wissenschaftlicher Forschung und Lehre; Überblick über wissenschaftlich generierte Menschenbilder der Neuzeit und Moderne; kritisches Verständnis von deterministischen und reduktionistischen Denkmustern.
Lehrmethodik
Vorträge des Lehrenden; interaktive Methoden: Referate der Studierenden, Präsentationen, Vorführung von (Kurz-)Videos; Diskussion, Ausarbeitung und Verfolgung gezielter Fragestellungen; Quellen- und Textkritik; Research Gate, Academia.edu;
Inhalt/e
Der Siegeszug der Naturwissenschaften basiert auf einem zentralen methodologischen Element: dem Messen. Die exakte Quantifizierung und Vermessung der Forschungsobjekte bilden die Grundlage für jene Beobachtungen und Experimente, ohne welche die empirisch-induktive Epistemologie der Naturwissenschaften nicht auskommt. So konnten z.B. die Physik Himmelskörper und Atomstruktur, die Chemie Elemente und deren Reaktionen, und die Biologie Erbgut und Vererbungsgesetze erkennen.Aber schon die Biologie muss epistemologische Hürden meistern, wenn es um so zentrale Begriffe wie Leben oder Lebewesen geht, und erst recht fragwürdig wird die Alleinherrschaft quantifizierender Methoden in den Humanwissenschaften: Lassen sich die wesentlichen Merkmale des Menschseins auf Vermessbares reduzieren? Stoßen in der Erkenntnisgewinnung spätestens dann, wenn es um Geist und Moral geht, die Strategien der Materialisierung und Quantifizierung nicht notgedrungen an ihre Grenzen? Zweifellos hat die Reduktion des Menschen auf eine Realie unter anderen zu beachtlichen Ergebnissen in Medizin, Psychologie und Biologie geführt. Aber ist damit auch schon alles über den Menschen gesagt? Seit dem 18. Jahrhundert präsentieren Geistes- und Naturwissenschaften konträre Antworten auf diese Fragen.In dieser Lehrveranstaltung wird die Geschichte der physischen wie psychischen Vermessung des Menschen nachvollzogen. Anhand der Forschungen und Lehren von Gelehrten und Wissenschaftern des 18., 19. und 20. Jahrhunderts wird das Messen als Strategie der Erkenntnis des Menschen im Hinblick auf Geltung und Genese untersucht. Von Lavaters „Stirnmaaß“ und Galls Phrenologie über die mehr oder weniger exakt arbeitenden, sich immer stärker ausdifferenzierenden Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts bis zur aktuellen Hirnforschung und Neuroscience werden die unterschiedlichsten Messtechniken und Quantifizierungsstrategien dargestellt und in Bezug auf ihre epistemologische Qualität analysiert.
Literatur
Christian Bachhiesl: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit (Wien 32019).Christian Bachhiesl, Sonja Maria Bachhiesl, Stefan Köchel (Hrsg.): Die Vermessung der Seele. Geltung und Genese der Quantifizierung von Qualia (= Austria: Forschung und Wissenschaft interdisziplinär 11, Wien u. a. 2015).Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Bd. 1: Der Materialismusstreit; Bd. 2: Der Darwinismus-Streit; Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit (Hamburg 2007).Cornelius Borck: Kopfarbeit. Die Suche nach einer präzisen Meßmethode für psychische Vorgänge, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 25 (2002), S. 107-120, 119.Cornelius Borck, Armin Schäfer (Hrsg.): Psychographien (Zürich, Berlin 2005).Hasok Chang, Nancy Cartwright: Measurment, in: Stathis Psillos, Martin Curd (Hrsg.): The Routledge Companion to Philosophy of Science (New York 2010), S. 367-375.Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität (Frankfurt am Main 2007).Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch (Frankfurt am Main 1988).Michael Hagner: Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn (Frankfurt am Main 2008).Volker Hess: Messen und Zählen. Die Herstellung des normalen Menschen als Maß der Gesundheit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 266-280.Bruce Mazlish: The Uncertain Sciences (New Haven, London 1998).Elisabeth Pernkopf: Unerwartetes erwarten. Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung (Würzburg 2006).Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung (Hamburg 2007). Hans-Jörg Rheinberger: Kulturen des Experiments, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 135-144.Link auf weitere Informationenhttps://christianbachhiesl.com